Gabriele & Marie
Gabriele Possanner & Marie Juchacz
Ein motivierender Briefwechsel
/ von Mihaela Kracholova
Am 19. Februar hielt Marie Juchacz eine Rede vor der Nationalversammlung der SPD. Sie war das erste weibliche Mitglied der Partei und setzte sich für die Rechte der Frauen ein. Gabriele Possanner war die erste Ärztin, die in Österreich praktizierte. Sie las die Rede von Marie Juchacz und war sehr inspiriert von ihren Worten. Deshalb beschloss sie, ihr einen Brief zu schreiben.
In den beiden Briefen erzählen die beiden Frauen einander die Geschichten ihres Lebens und was sie tun mussten, um in dieser Welt zu überleben.
Brief von Gabriele Possanner an Marie Juchacz:
Sehr geehrte Frau Juchacz,
Mein Name ist Gabriele Possanner. Ich bin in Buda geboren, aber lebe in Wien. Sie fragen sich vielleicht, warum ich Ihnen meine Geschichte erzähle und warum ich diesen Brief geschrieben habe. Ich habe Ihre Adresse von der Sekretärin der SDP bekommen, weil ich Ihnen sagen wollte, wie inspirierend Sie für alle Frauen sind.
Zwischen 1888 und 1893 habe ich in Genf und Zürich Medizin studiert. Im Jahr 1894 erhielt ich den Doktortitel in Medizin und das gab mir das Recht, zumindest in der Schweiz als praktische Ärztin zu arbeiten. Danach kehrte ich nach Wien zurück. Leider konnte ich erst nur in Bosnien und Herzegowina praktizieren, aber ich wollte in Wien bleiben. Nach vielen Briefen und Anträgen an verschiedene Behörden wurde meine berufliche Kompetenz anerkannt. Am 2. April 1897 erhielt ich als erste Frau in der österreichisch-ungarischen Monarchie den Doktortitel. Im selben Jahr begann ich als Ärztin zu praktizieren. Bis 1903 war ich die einzige Frau, die als Ärztin in einem der Krankenanstalten wirkte.
Ich habe Ihre Rede für die Nationale Frauengemeinschaft in Deutschland gelesen. Ich war sehr beeindruckt von Ihren Worten. Sie sind eine junge, starke und unabhängige Frau. Ich bewundere die Art und Weise, wie Sie für das Recht der Frauen kämpfen. Ich habe wegen meines Geschlechts viel erlebt. Ich verstehe die Schwierigkeiten, die Sie und alle anderen Frauen hatten, die gleichberechtigt mit den Männern sein wollen. Bei einer der Wahlen der Ärztekammer stellte sich heraus, dass ich nicht wahlberechtigt war. Meine Proteste wurden zurückgewiesen, weil ich als Frau nicht wahlberechtigt war. Aber ein Jahr später schaffte ich es, mein Wahlrecht zu bekommen, und ich wurde als „Ersatzmitglied“ zugelassen.
Ich möchte Ihnen nochmals sagen, dass ich Ihre Arbeit und all die Dinge, die Sie für die Frauen tun, respektiere, dass Sie sehr offen und mutig sind. Auch wenn wir in verschiedenen Ländern leben und in völlig verschiedenen Berufen arbeiten, haben wir andere Frauen inspiriert und motiviert, mutig zu sein.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meinen Brief zu lesen! Seien Sie stark und mutig!
Beste Wünsche
Gabriele Possanner
Brief von Marie Juchacz an Gabriele Possanner:
Sehr geehrte Frau Possanner,
vielen Dank für Ihren Brief. Ich war sehr beeindruckt von Ihren Worten. Ich bin sehr stolz, Frauen wie Sie zu sehen. Sie scheuen sich nicht, für ihre Rechte zu streiten. Ich bewundere die Tatsache, dass Sie die erste Frau sind, die in einem der königlichen Krankenhäuser in der Monarchie praktiziert. Ich freue mich, dass meine Worte andere starke Frauen wie Sie motivieren und inspirieren.
Es ist auch für mich nicht leicht, heute auf diesem Posten zu sein. Und nachdem Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben, erzähle ich Ihnen auch gerne mehr über mich. In meiner Kindheit lebten wir mit meiner Familie in Armut. Ich musste die Schule verlassen, als ich 14 war. Mein Bruder war die Person, die mich in die Politik eingeführt hat. Er ermutigte mich, populäre politische Bücher zu lessen – „Die Waffen nieder!“, „Die Frau und der Sozialismus“. Ich habe geheiratet und habe zwei wunderschöne Kinder – Lotte und Paul. Nach der Scheidung von meinem Mann zog ich mit Lotte und Paul, meiner Schwester und ihren Kindern nach Berlin.
Im Jahr 1908 trat ich der SPD bei und war das erste weibliche Parteimitglied. Sie erwähnten meine Arbeit für die Nationale Frauengemeinschaft. Ich wollte den Menschen und nicht nur den Parteimitgliedern näher sein und ihnen die Möglichkeit geben, mich besser kennen zu lernen. Ich wollte Frauen unterstützen und ihnen die Rechte geben, die sie verdienen. Mit meiner Schwester organisierten wir die Heimarbeitszentrale. Das waren Zentren, die Frauen die Möglichkeit geben, von zu Hause aus zu arbeiten, auch mit Unterstützung für Kriegswitwen und -waisen. Leider teilte sich die SPD 1917 und ich blieb bei der SPD-Mehrheit. Ich nahm die Einladung an, Frauensekretärin in der nationalen Führung der Partei zu werden. Meine größte Errungenschaft bis jetzt ist, dass zwei Jahre später Frauen an den nationalen Wahlen teilnehmen durften. Einen Monat später war ich die erste Frau, die eine Rede vor dem Deutschen Bundestag hielt. Es war mein Traum, seit ich ein Kind war. Für mich ist das eine große Leistung.
Mein ganzes Leben habe ich für die Rechte der Frauen gekämpft und dafür, dass sie den Männern gleichgestellt werden. Wir beide, Gabriele, haben große Erfolge erzielt. Wir arbeiten an Positionen, die nur für Männer bestimmt waren. Wir müssen andere Frauen weiterhin motivieren, für ihre Rechte zu kämpfen!
Ich bin sehr froh, dass Sie Ihre Geschichte mit mir geteilt haben! Ich kämpfe für uns und für die Gleichberechtigung der Frauen. Das ist meine Mission!
Herzliche Grüße
Marie Juchacz
Gabriele Possanner von Ehrental (1860–1940) war eine Ärztin in Österreich, die als erste Frau in Österreich-Ungarn promovieren durfte und ab 1902 als erste Frau als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitete.
Marie Juchacz (1897–1956) war eine Politikerin in Deutschland. Sie gründete 1919 die Arbeiterwohlfahrt und setzte sich für das Frauenwahlrecht ein. Sie hielt als erste Frau 1919 eine Rede in der Weimarer Nationalversammlung.